Mein – und auch dein – Leben besteht nicht nur aus einer einzigen Heldenreise. Vielmehr sind es eine Vielzahl unterschiedlicher Heldenreisen, die wir durchleben. Mal kürzer, mal länger. Diese hier zog sich über viele Jahre hin und im Aufschreiben der Ereignisse wurde mir deren Bedeutung erst so richtig bewusst.
1 Wer bin ich
Seit 2004 ist Gambri an meiner Seite. Er kam zu mir, weil sein Besitzer von ihm enttäuscht war. Weil Gambri dessen Erwartungen nicht erfüllen konnte.
Gambri war noch Hengst, jedoch fehlte ihm im Alter von 12 Jahren die alles entscheidende Prüfung, damit seine Fohlen als reinrassige Islandpferde gelten konnten. Die Bereiterin erkannte das fehlende Gangpotential und wies den Auftrag zurück. Gambri musste gehen, weil sein Besitzer dies als persönliche Schmach empfand.
Ich war sehr froh über seinen Einzug bei mir. Ich ließ in kastrieren, damit er in der Herde leben konnte. Gambri war nicht nur äußerlich ein schönes Pferd, ein heller Isabell, der im Winterfell weiß leuchtete. Gambri war auch im Umgang und im Reitunterricht immer ein verlässliches, vertrauenswürdiges Pferd für Anfänger und fortgeschrittene Reiter. Ein Glücksgriff ohne gleichen, der still leuchtete und diente.
Ende August im Jahre 2014 hatte ich schon einige intensive Monate als Reitlehrerin hinter mir. Viele Kinder und auch einige erwachsene Menschen kamen zu mir und meinen Pferden. Sie alle folgten einer Sehnsucht. Sie wollten reiten lernen. Oder sie sahen es als einzige Möglichkeit, Kontakt zu Pferden zu haben, indem sie reiten lernten.
Die Saison war noch nicht vorbei. Sie dauerte meistens bis Ende November, je nachdem, wie die Wetterlage war. Ich fühlte mich allerdings jetzt schon ausgelaugt. Ich war sauer, ohne zu wissen, warum und auf wen. Ich bemerkte, dass auch meine Pferde sauer waren. Gambri und seine Kollegen taten ihre Arbeit lustlos. Es fehlte Ihnen an Motivation.
Normalerweise machte uns unsere gemeinsame Arbeit viel Freude. Doch jetzt war von dieser Freude wenig, manchmal gar nichts zu spüren.
Ich ärgerte mich über diesen Zustand. Für mich war immer schon wichtig, dass meine Reitschüler Glück erleben und sich freuen. Doch in letzter Zeit fühlte ich mich unter Druck gesetzt.
Einerseits mache ich mir selbst Druck. Ich wollte, dass meine Reitschüler etwas lernen und vorwärtskommen, dass sie mit einem guten Gefühl aus der Reitstunde gehen. Ich erkannte, dass dies sehr oft auf Kosten meiner Pferde ging. Sie leuchteten nicht mehr.
Dieser Erfolgsdruck frustrierte mich und machte mich unglücklich. Ich hatte das Gefühl, dass Gambri und die anderen Pferde etwas Bestimmtes von mir erwarteten, von dem ich jedoch keine Ahnung hatte.
Vor zwei Jahren hatte mich Gambri schon um „Unterstützung“ gebeten. Mit Dagfari hatte ich durch glückliche Umstände ein zweites verlässliches Anfängerpferd gefunden, das Gambri sehr entlastete. Ich hatte damit jedoch nur äußere Umstände, aber noch nichts an mir und meiner Einstellung verändert.
2 Der Ruf
Ich gönnte mir eine Pause. Ich hatte eine Fortbildungsveranstaltung meiner Shiatsu Ausbildung auf der Insel Hvar in Kroatien gebucht. Es ging um das Wesen der fünf Elemente und deren Elementargeister. In der Lehre von den fünf Elementen begegnen uns folgende Elemente: Erde, Metall, Wasser, Holz und Feuer.
Jedem Element ist ein Elementargeist zugeordnet. Der Geist des Elements beschreibt sozusagen die Essenz. Der Geist des Feuerelementes ist Shen. Shen ist nicht nur die Liebe, sondern auch das Bewusstsein und die Klarheit und ist unter anderem durch die Sonne verkörpert.
Wir trafen uns mitten in der Nacht und brachen zu einer Bergwanderung auf. Am Gipfel des Berges steht eine kleine Kapelle, sie ist dem heiligen Nikolaus geweiht. Sveti Nicolai. Noch in der Dunkelheit fuhren wir – soweit es möglich war – mit den Autos zum Sveti Nicolai. Das letzte Stück gingen wir zu Fuß.
Das gefiel mir. Ich bin in der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember geboren. Der 6. Dezember ist dem heiligen Nikolaus geweiht.
Wir wollten den Sonnenaufgang erleben. Wir wollten sehen und beobachten, wie das Licht mehr und mehr wird, um schließlich den Moment des Sonnenaufganges selbst zu erleben.
Ich fand einen Platz nur ein paar Meter von der Kapelle entfernt. Dort ließ ich mich nieder. Es war kalt am Berg und ich wickelte mich in eine Decke. Langsam wurde es dämmerig. Von Osten her mehrte sich der Lichtschein. Je heller es wurde, desto mehr erschien mir das Licht wie eine riesige Bugwelle der nachfolgenden Sonne.
Kurz vor dem tatsächlichen Sonnenaufgang war es mir, wie wenn die Natur ihren Atem anhält. Die Vögel, die vorher schon auf das Licht reagiert hatten, verstummten noch einmal für einen kurzen Moment.
Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf den östlichen Horizont. Alle meine Sinne waren gespannt und auf den erwarteten Moment gerichtet. Ich hielt selbst den Atem an. Und da war sie!!! Es gab kein Zögern der Sonne, kein vorsichtiges „Ich schau mal über den Horizont“. In dem Moment, wo ich sie sah, war sie kraftvoll da. Sie betrat die Bühne des Tages und nahm ihren Raum ein.
Die Vögel hatten schon wieder ihren Gesang aufgenommen. Der Moment der Stille war vorbei. Die Bugwelle des vorauseilenden Lichts raste weiter in den Westen. Mir wurde bewusst, dass mein persönlicher Sonnenaufgang gleichzeitig der Sonnenuntergang für viele Menschen im Osten war.
Während dieses Erlebnis noch in mir nachwirkte, nahm meine Seele die Chance wahr, sich mir zu zeigen.
Plötzlich nahm ich eine sehr große, sehr kraftvolle Präsenz hinter mir war. Vorsichtig drehe ich mich um. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber das, was ich tatsächlich sah, erschütterte mich. Eine große, leuchtende Gestalt stand hinter mir. Sie war in ein weißes, langes Gewand gekleidet. Sie trug ein Schwert in der rechten Hand, ihr Blick war nach vorne gerichtet. Diese Gestalt stand auf einem Hügel, es wirkte wie eine Burg, eine Zufluchtsstätte. Und dann sah ich, dass viele Menschen auf diese Burg zuströmten. Und ich bemerkte auch, dass das Schwert in der Hand der Gestalt zum Schutz dieser Menschen diente.
Mein erster Gedanke war, dies wäre ein Engel.
Ich kann nicht genau sagen, wie lange ich dies alles wahrnahm. Ich war wie in einer anderen Welt. Zeitlos. Präsent. Erstaunt. Erfürchtig.
Langsam verblasste das Bild, ich saß wieder alleine vor der Kapelle. Im Gelände rund um die Kapelle regten sich langsam meine Kurs-Kolleginnen und -Kollegen. Ich war erschüttert. So etwas hatte ich noch nicht erlebt. ich konnte mit niemandem darüber sprechen.
In den nächsten Tagen dachte ich immer wieder darüber nach. Die leuchtende Gestalt beschäftigte mich. Erst als ich den Gedanken zuließ, dass sich mir meine Seele mit ihrer Lebensaufgabe gezeigt hatte, wusste ich sofort, dass dies die Wahrheit war.
Meine Seele hatte mir in diesen Bildern gezeigt, was denn meine Lebensaufgabe ist: einen Ort zu hüten, an dem Menschen Schutz und Zuflucht finden können.
3 Die Blockade
Mein Verstand wehrte sich. Wie soll das denn gehen?
Ich war wieder zurück und suchte im Internet nach weiteren Hinweisen. Zwei Ergebnisse meiner Recherchen sollten mein Leben nachhaltig verändern.
Das eine Ergebnis betraf meinen Namen. Zeit meines Lebens war ich mit meinem Namen unzufrieden gewesen. Ich fand „Waltraud“ furchtbar. Fühlte mich so gar nicht als „starke Herrscherin“, wie es im Namensbuch erklärt wurde. Einzig die Lebensgeschichte der Hl. Waltraud von Mons (Sainte Waudru, † 688), die ein Kloster gegründet hatte, berührte mich. Doch als ich die wörtlich übersetzte Bedeutung las, wurde mir schlagartig der Zusammenhang mit meinem Seelenbild vom Sveti Nicolai bewusst: ich bin die, die den auf dem Schlachtfeld Erschlagenen/Verletzten treu ist.
Das zweite Ergebnis war Spirithorse, die Seite von Ulrike Dietmann. Dort stach mir sofort ein angebotener Kurs ins Auge: „Mut und Vision – eine Heldenreise mit Pferden“.
Ich wollte buchen, doch der Kurs war schon voll. Ulrike bot mir einen Ersatzkurs mit dem Thema „Charisma“ an. Na gut, dachte ich, dann mache ich halt diesen Kurs. Warum auch immer. Ich hatte mit Charisma gar nichts am Hut.
Einige Wochen später rief mich Ulrike an. Bei „Mut und Vision“ sei ein Platz frei geworden. Ich war dabei! Meine Reise in die Welt der pferdegestützten Persönlichkeitsentwicklung begann!
Ein Jahr später musste ich im Laufe der Ausbildung zum Heros Journey Instructor auch einige schriftliche Hausaufgaben erledigen. Ich erinnerte mich daran, dass ich schon in meiner Schulzeit den Wunsch hatte, ein Buch zu schreiben. Ich stürzte mich mit Feuereifer auf die Beschreibung von Archetypen und saß einen ganzen Tag lang am Computer.
Am nächsten Tag konnte ich mich nicht mehr rühren. Mit Müh und Not schaffte ich es in die orthopädische Praxis. Eine Spritze verschaffte meinen Bandscheiben und mir Erleichterung. Ich legte die Hausaufgaben auf Eis. Ich dachte:
„Wie willst du ein ganzes Buch schreiben, wenn du es nicht einmal einen Tag aushältst?“
Die Blockade hielt mehrere Wochen an. Doch mein Ruf war stärker und Gambri und seine vierbeinigen Kollegen waren weiterhin beständig an meiner Seite. Ihre Geschichten füllten Seite um Seite.
4 Das Ziel
„Einen Elefanten muss man in kleine Portionen zerlegen, um ihn essen zu können.“
Im Jahr 2019 hatte ich nicht nur meine Hausaufgaben erledigt, sondern auch einige andere Blockaden gelöst.
Einige der von mir ausgearbeiteten Archetypen fanden ihren Platz in einem Gemeinschafts-Buchprojekt der Heros Journey Instruktoren: „Kraftbilder der Seele“, erschienen bei Spiritbooks.
Dadurch wurde ich für mein eigenes Buch inspiriert: „Der wahre Reitlehrer ist das Pferd“, ebenfalls erschienen bei Spiritbooks. Mit Gambri und mir auf dem Cover.
Das Titelbild war die logische Konsequenz aus der Arbeit der vergangenen Jahre. Mein Reitunterricht hatte sich grundlegend verändert. Ich „sah“ meine Pferde, allen voran Gambri. Ich mutete ihnen nicht mehr zu, zugunsten der Zufriedenheit der Reitschüler funktionieren zu müssen. Wir kommunizierten nun auf Augenhöhe und meine Reitschüler lernten, dies auch zu tun.
Fast wäre aus dem geplanten Buch nichts geworden. Ich hatte kurz vor dem letzten Kapitel eine Schreibblockade. Bei der Suche nach der Ursache fand ich heraus, dass ich mich vor den möglichen Konsequenzen fürchtete, wenn ich damit an die Öffentlichkeit gehe. Ich stellte mir die schlimmsten Szenarien vor. Ausgebuht zu werden, war eine der harmloseren Varianten. Doch dann wurde mir bewusst, dass das, was ich zu sagen hatte, mir sehr wichtig war und ist. So wichtig, dass ich bereit war, all die möglichen negativen Konsequenzen dafür in Kauf zu nehmen. Ich machte mich sichtbar. Gemeinsam mit Gambri.
5 Die Verbindung
Schritt für Schritt hatte ich mir also Selbstbewusstsein erobert. Hatte ich mich in meiner Familie und vielen Gruppierungen davor als das „schwarze Schaf“ wahrgenommen, so veränderte sich nun meine Sicht auf mich in Richtung „Einzigartigkeit“.
Ich hatte auch die Reitschule aufgegeben und Gambri und seine Kollegen waren als Schulpferde bereits in Rente. Die Arbeit als pferdegestützter Persönlichkeitstrainer begeisterte mich und die Resultate sprachen für sich. Es war mir lange nicht bewusst, aber meine Arbeit brachte mich zum Strahlen. Gambri strahlte mit mir.
Der völlig freie, ungezwungene Kontakt zu den Menschen brachte noch mehr seine Fähigkeiten zum Vorschein. Er diente mit seinem ganzen Sein. Sein Motto war: „Ich trage dich!“ Nicht nur als Reitpferd, sondern auch mit seiner Fähigkeit, Vertrauen zu vermitteln. Denn Vertrauen trägt durchs Leben.
Dagfari und Gambri unterstützten von Anfang an meine neue Arbeit mit Begeisterung. Sie waren es auch, die die anderen Pferde nach und nach zum Mitmachen „einluden“. Sara war besonders skeptisch. Sie hielt sich gerne im Hintergrund. Doch dem sicht- und fühlbar werden der authentischen Gefühle der Menschen konnte auch sie auf Dauer nicht widerstehen. Wie alle anderen Pferde involvierte auch sie sich auf unvergleichliche Art und Weise in deren Gefühlsprozesse. Obwohl Gambri der Rangniedrigste in der Herde war und ist, war er gemeinsam mit Dagfari der Pionier dieser Arbeit.
6 Das Herz der Kreatur
Dieses Vertrauen, dass mich das Leben trägt, brauchte ich dringend, denn große Entscheidungen standen an. Ich hatte mich im Vorjahr zu einer weiteren Ausbildung entschlossen und mich für drei schamanische Lehrjahre verpflichtet.
Es war eine Frage der Loyalität mir gegenüber. In all den eigenen Heldenreisen und systemischen Aufstellungen im Heilraum der Pferde hatte ich erfahren, dass es Kräfte gibt, die größer sind als ich, größer als die Menschheit. Dieses Wissen hatte ich Jahrzehnte in mir mehr oder weniger verschlossen gehalten. Doch jetzt wollte es sichtbar werden.
Gambri brachte mir diese universelle Kraft ins Bewusstsein. Er stellte sich einfach und unaufdringlich dafür zur Verfügung. Seine Schaubilder mit meinen Klienten waren sehr eindringlich! Eines dieser Schaubilder ist mir besonders im Gedächtnis geblieben.
Beim Coaching mit einer Klientin ging es um ihren persönlichen Herz-Raum, um das, was sie dort findet und wie es sich anfühlt. Sie stand mit geschlossenen Augen im Auslauf der Pferde und fühlte ihre Herzqualitäten und die Liebe zu sich selbst. Dies war so anziehend für meine vierbeinigen Freunde, dass sie sich näherten und sich formierten. Schließlich standen Gambri, Dagfari und Messa nebeneinander frontal etwa einen Meter von ihr entfernt. Alle drei Köpfe waren ihr zugewandt. Sie tauchten in die Herzenergie der Frau ein und blieben so mehrere Minuten lang ganz ruhig vor ihr stehen. Als meine Klientin aus dieser Verbundenheit auftauchte und ihre Augen öffnete, war sie – genauso wie ich – total berührt von diesem Schaubild. Es zeigte ihr, was passieren kann, wenn wir unsere Gefühle fühlen.
7 Zerreißprobe
Meine Seele war also bereits in Bewegung. Mein Körper musste nachfolgen. Auch das war eine Frage der Loyalität mir gegenüber. Die Trennung von meinem langjährigen Lebenspartner stand an. Ich konnte nicht mehr so tun, wie wenn mich diese Beziehung glücklich machen würde. Denn ich hatte das Strahlen verlernt. Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Platz für meine Pferde und mich.
Schon lange, genauer seit meiner ersten Heldenreise, beschäftigte mich der Wunsch, ein Zentrum zu schaffen, in dem sich Menschen und Pferde heilsam begegnen können. Es war das Bild meiner Vision vom Sveti Nicolai, dem ich folgte.
„Mein Zentrum“ sollte ein naturnaher Ort sein. Ein Naturparadies für Menschen und Pferde. Ein schöner Flecken Erde und gleichzeitig eine Begegnungsstätte der besonderen Art.
Ich suchte lange und gründlich. Ich knüpfte viele Kontakte und fand einige Mitstreiter. Wir besichtigten und entwarfen Konzepte. Wir wurden mit vielen Hindernissen konfrontiert. Ich versuchte es mit direktem Ansprechen oder ging Umwege. Ich war beharrlich und übte mich in Geduld. Manchmal war ich verzweifelt und fühlte mich ohnmächtig. Dann wieder war ich zuversichtlich und voller Euphorie. Gefühlt jedoch drehte ich mich im Kreis zwischen Hoffnung und Katastrophe und kam keinen Schritt weiter.
Erschöpft und ratlos saß ich eines Abends bei den Pferden. Wieder hatte sich die Hoffnung auf einen passenden Ort für das gewünschte Zentrum zerschlagen. Dabei kam mir die Idee für eine schamanische Reise.
Nach menschlichem Ermessen war ich nicht in der Lage, so einen Ort zu finden. Vielleicht hatte ja die geistige Welt mit ihren Spirits einen Hinweis für mich.
Ich holte meine Trommel und formulierte mein Anliegen:
„Ich möchte endlich ankommen, damit mich Menschen finden können, die Heilung suchen.“
Ich begab mich auf die Reise.
„Was muß passieren, damit ich endlich ankommen kann?“
Mein Ururgroßvater erschien mir. Er hatte Pferde vor seinen Wagen gespannt und war unterwegs. Er war ein fahrender Händler und handelte mit Eiern und Geflügel. Ich saß neben ihm auf dem Kutschbock. Er lehrte mich das Ankommen im Unterwegs sein. Er lehrte mich, der Notwendigkeit zu folgen. Er lehrte mich, da wo ich bin, kommen die Menschen zu mir. Es ist nicht notwendig, einen bestimmten Ort mein Eigentum zu nennen. Es ist notwendig, bei mir zu sein. Selbst das Zentrum zu sein.
Das war es. Darum ging es also. Das Haben loszulassen, um im Sein zu landen.
Ich nahm Abschied von Projekten, veralteten Konzepten und Lebensmustern.
Gambri stand vor mir, schaute mir tief in die Augen und schnaubte ab.
8 Scheitern
Ende 2021 war Ulrike Dietmann zu Besuch bei Jani und mir. Gemeinsam standen wir im Auslauf unserer Pferde. Uns beschäftigte die Frage, wo denn die Reise zukünftig hingehen würde. Jede von uns suchte sich einen Platz in der Herde und nahm wahr, wie sich denn ihr Körper anfühlte. Eine hilfreiche Möglichkeit, um präsent zu sein. Ich sah den Zaun um den Auslauf der Pferde. Ich war unzufrieden, weil ich dies als Begrenzung empfand. Einerseits, weil es unsere Pferde in ihrem Bewegungsdrang begrenzte. Andererseits, weil ich mich auch beengt und eingesperrt fühlte.
Vor mir stand Gambri. Er hätte zum Heu gehen können, tat es aber nicht. Während ich ihn betrachtete, hatte ich den Impuls, nach oben zu schauen. Da war nichts, außer der Sternenhimmel. Ich sah wieder zu Gambri und auch zu den anderen Pferden. Wieder kam bei mir der Impuls an, nach oben zu schauen. Also tat ich, was die Pferde offenbar von mir wollten. In dem Moment begriff ich es: ich scheitere, wenn ich nicht in meine Größe wachse. Größe im Sinne von Seelengröße, universeller Größe und über mich hinauswachsen statt mehr Quadratmeter haben zu wollen.
Die Pferde schnaubten ab und widmeten sich nun ihrem Heu.
9 Transformation
März 2023. Jani und ich waren vertrauensvoll den Impulsen des Lebens gefolgt und ich machte mich mit meiner Spiritualität mehr und mehr sichtbar. Ich hatte meine Schamanische Ausbildung im Jahr davor mit einer Visionssuche abgeschlossen und war noch mehr bereit, in meine Größe zu wachsen, mich damit zu zeigen und meinem Seelenauftrag zu folgen.
Wir hatten endlich einen Ort gefunden, der uns mit seiner Natürlichkeit begeisterte und energetisch aufgeräumt wirkte. Die Pferde zogen an Gambri’s Geburtstag um. An diesem Tag wurde er 31 Jahre alt.
Eine Woche später folgten wir den Pferden an den neuen Ort. Auch das ging gut. Ein paar Tage danach jedoch gefiel mir meine Stute Vinkona nicht. Sie fraß nicht. Sie lag viel. Sie hatte leichte Bauchschmerzen, aber es sah nicht wirklich dramatisch aus.
Der Tierarzt kam. Verstopfungs-Kolik war seine Diagnose. Sie bekam alle notwendigen Medikamente von ihm und alle Naturheilmittel, über die ich selbst verfügte. Die Verstopfung hielt trotzdem an, löste sich nicht. Drei Tage lang musste der Tierarzt täglich kommen. Ich bangte um mein Pferd und haderte gleichzeitig mit dem Schicksal. Wenn Gambri in seinem hohen Alter gesundheitliche Probleme gehabt hätte, hätte ich das verstanden. Aber doch nicht diese junge Stute!
Obwohl der Tierarzt und ich alles taten, was in unserer Macht stand, fühlte ich, dass wir es nicht in der Hand hatten, sie zu heilen.
Ich begriff, dass mich dieses Ereignis etwas Wichtiges lehren wollte. Ich griff zu meiner Trommel und reiste mit Vinkona an meiner Seite zu meinen Spirits. Sie wiesen mir den Weg in eine Höhle. Dort traf ich eine Frau, die gleichzeitig alt und jung war. Sie saß am Feuer und hörte sich meine Bitte um Unterstützung für Vinkona an. Sie fragte mich:
„Vertraust du mir?“ Ich bejahte. Sie sagte:
„Du musst dieses Pferd bei mir lassen und alleine zurückkehren.“
Ich begann zu weinen, denn nun begriff ich, was sie tatsächlich von mir forderte. Nicht nur ein Lippenbekenntnis, sondern das Loslassen sämtlicher menschlicher Kontrolle und Wünsche.
Unter Tränen sah ich sie an. Sie war die Große Erdmutter. Sie war die weibliche göttliche Kraft. Sie war die, die Leben gibt und Leben nimmt.
Sie sah mich ungerührt an. Nun wurde ich ruhig. Ich erkannte, dass ich das Leben nicht in der Hand hatte. Auch nicht das von Vinkona. Ich hatte mein Bestes gegeben. Der Tierarzt hatte sein Bestes gegeben. Ich legte den Halfterstrick in ihre Hand, dankte ihr und verabschiedete mich von meinem Pferd. Ich kehrte zurück zu meinen Spirits und beendete die Reise.
Am nächsten Tag war die Verstopfung durch. Mein Pferd fraß wieder, verdaute und hinterließ Pferdeäpfel. Ihre gesundheitliche Krise war überstanden. Meine Glaubenskrise war ebenfalls überstanden. Vinkona hatte sich dafür zur Verfügung gestellt, dass ich eine Erfahrung machen konnte. Gottseidank ist dieses sich zur Verfügung stellen nur sehr selten mit so krassen Erlebnissen verbunden. Aber bei jeder pferdegestützten Persönlichkeitsentwicklung stellen sich die Pferde für Erfahrungen der Menschen zur Verfügung. Und wenn wir sie frei und ungezwungen dazu einladen, sind es Begegnungen auf Augenhöhe, denn jedes Pferd nimmt auch für sich etwas Wertvolles aus dieser Begegnung mit.
10 Der Schatz
Unsere Pferde machen es mir täglich vor, wie es geht, sich selbst zu leben. Jedes Pferd lebt auch seinen Seelenauftrag und dient damit den Menschen und der Herde. Immer wieder beobachte ich, dass sich bestimmte Pferde für bestimmte Lebensthemen der Menschen zur Verfügung stellen. Es ist so, wie wenn sie sagen würden: „Ich mache das, das ist auch mein Thema. Wir heilen uns gegenseitig.“
Gambri hatte sich im Laufe der vergangenen Wochen mehr und mehr aus dem aktiven Zugehen auf Klienten zurückgezogen. Er war da und gleichzeitig schien es, wie wenn er nicht mehr wirklich da wäre. Er leuchtete. Sein Körper wurde durchscheinender, aber sein inneres Licht wurde immer stärker. Er lud mich zu einer schamanischen Reise ein:
Sich selbst zu leben und die entsprechenden Wege dafür zu finden braucht Mut. Ich reiste zu den Pferdeahnen und traf dort meine erste Stute Una. Una war ein sehr mütterliches Pferd und von ihr hatte ich unglaublich viel über Vertrauen gelernt. (Diese Geschichte habe ich bereits in meinem Buch erzählt.)
Es roch nach Heu, der Himmel war hoch und weit, alle Farben der Natur hatten eine sommerliche Leichtigkeit. Ich ritt ohne Sattel auf Una, fühlte mich frei und gleichzeitig zuhause auf ihr. Sie brachte mich zum Fuß eines Berges. Ich ließ mich von ihrem Rücken gleiten und sie sagte zu mir:
„Du bist für eine Nachfolge auserwählt. Geh hinein, ich warte hier auf dich.“
Ich sah mich um und entdeckte, dass ich vor einer Felsspalte stand. Sie war ein Zugang zu etwas bisher Unzugänglichem. Ich überwand mich und betrat den unbekannten Raum im Inneren des Berges. Ein Feuer brannte. Eine alterslose Frau erwartete mich dort. Ich erinnerte mich an die Reise mit Vinkona und erkannte, dass ich wieder bei der großen Erdgöttin gelandet war. Hier fühlte ich mich sicher und aufgehoben.
Sie sah mich an. Sie sprach nicht, aber ihre Worte tönten in meinem Herzen:
„Hier darfst du sein. Das Geheimnis des Lebens ist, dem Göttlichen zu vertrauen. Dieses Vertrauen ist das Gegengewicht zur Ohnmacht, eine wertvolle Gabe gegen Verzweiflung. Dies ist dein Auftrag, diese Gabe in die Welt zu bringen. Du bist dazu auserwählt, sie zu vermitteln und zu entfalten.“
Sie legte mir ihre rechte Hand auf den Scheitel, eine Geste des Segens. Es war, wie wenn sich ein Licht in mir entzündete.
Mir wurde bewusst, dass niemand so sein kann, wie ich. Dieses Licht kann mir nicht mehr genommen werden. Ich war aufgewacht zu mir selbst! Ich sah meine Umgebung mit anderen Augen. Ich selbst fühlte mich heller, leichter und energievoller! Ich verspürte Lust und Vorfreude, dieses Licht in die Welt zu bringen.
Die große Erdgöttin war zufrieden. Ich hatte ihr Geschenk, das Unwägbare in göttliche Hände zu legen, entgegengenommen. In dem Moment erkannte ich, dass ich Teil dieser göttlichen Dreifaltigkeit bin: das was war, das was ist und das, was sein wird.
Ich verneigte mich dankbar vor ihr und ging, verließ die Höhle durch den Felsspalt und traf dort wieder auf Una. Ich war eine Andere geworden und dankte auch ihr, dass sie mich hierhergebracht hatte.
11 der weite Blick, die Essenz
Als Gambri zu mir kam, war ich begeistert von seinen Qualitäten als Reitpferd. Er war auch für Reitanfänger sehr einfach zu reiten, war immer höflich, super verlässlich und vertrauenswürdig. Aber er war auch schön anzusehen und gesegnet mit einem freundlichen Wesen. Ein Geschenk des Schicksals an mich.
Damals war er 12 Jahre alt und bis jetzt haben wir 19 Jahre miteinander verbracht.
An Sonnwend, dem 21. Juni, saßen Jani und ich am Feuer. Der längste Tag des Jahres ging zu Ende und die kürzeste Nacht des Jahres war angebrochen. Das Licht hatte seine größte Ausdehnung erreicht. Ab nun würde es sich bis zum Ende des Jahres mehr und mehr zurückziehen, um bei der Wintersonnenwende wieder neu geboren zu werden.
Uns beschäftigte die Frage, welcher Wandel sich für jede von uns nun ankündigt. Wir trommelten und reisten.
Meine Reise führte mich in den Kreis meiner persönlichen Spirits. Ich setzte mich dazu und ließ meine Blicke schweifen. Ich stockte, denn ein Wesen war neu im Kreis. Es war Gambri. Der Abschiedsschmerz traf mich unverhofft. Am lichtvollsten Tag des Jahres traf ich ihn auf der anderen Seite. Er hatte den Höhepunkt seiner Strahlkraft erreicht. Und er hatte mich bis zu dem Zeitpunkt begleitet, wo mir dies alles bewusst geworden war und er mir nun nichts mehr beibringen konnte. Er hatte seine Lebensaufgabe erfüllt.
Gleichzeitig wusste ich aber auch, wenn er geht, wird er Licht und es ist nicht das Ende. So wie ich Una, meine erste Stute, jederzeit bei den Pferdeahnen treffen kann, wird mich Gambri im Kreis meiner Spirits weiterhin unterstützen.
Gambri war und ist mein Begleiter zum Licht und ich danke ihm von Herzen.
P.S.: Gambri verstarb am 9.10.2023
